Bild oben: Symbolbild zum Thema numerische Methoden
Die Meteorologie ist heute eine äußerst berechnende Wissenschaft. Das war allerdings nicht immer so und der Mensch beschäftigt sich wohl schon seit seiner Bewusstwerdung mit dem Wettergeschehen. Historisch gesehen ist diese Beschäftigung eine Mischung aus philosophischen, astrologischen und praktischen Ansätzen gewesen*. Aristoteles verfasste ca. 340 vor unserer Zeitrechnung das erste Grundlagenwerk zur Meteorologie, aber erst mit dem Aufkommen wissenschaftlicher Ansätze im 17. und 18. Jahrhundert begann die systematische Beobachtung und Erforschung der Vorkommnisse in der Atmosphäre. Der erste Wetterbericht erschien angeblich im Jahre 1692 und hatte eine Trefferquote von 100 %. Das allerdings nur deshalb, weil er keine Prognose enthielt, sondern tatsächlich nur ein Bericht über das vergangene Wetter war. Diese Bilderserie zur Geschichte des Wetters enthält die Anekdote, die ich allerdings nicht aus anderen Quellen verifizieren kann. Der erste tägliche Wetterbericht ist hingegen gut belegt. 1861 veröffentlichte Robert FitzRoy in Großbritannien diesen in der Zeitung “The Times”. Sogar mit Prognose. ;-) Hier gibt’s die Hintergründe dazu.
Eine spannende Reise, die das Wetter bei den Menschen nahm. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts setzten sich schließlich die physikalischen Methoden durch, und die Meteorologie entwickelte sich zu der Disziplin, die heute fest auf quantitativen Messungen und Berechnungen basiert. Diese Entwicklung wurde durch technologische Fortschritte und die Etablierung staatlicher Wetterdienste unterstützt. Auch wenn man mit den wissenschaftlichen Durchbrüchen die Meteorologie sehr schnell als quasi-deterministische** Disziplin durchschaut hatte, dauerte es doch bis zum Aufkommen verfügbarer Rechenkapazitäten gegen Mitte des 20. Jahrhunderts, um basierend auf den klug identifizierten Zusammenhängen im Kleinen (also den Formeln), Analysen und Prognosen im Großen (also die Modelle) zur Verfügung zu haben, mit denen heute gearbeitet wird. Das alles beschreibt sozusagen den Weg von der Bauernregel zum Rechenzentrum.
Formeln und Modelle spielen also in der heutigen Wetterkunde die entscheidende Rolle. Ohne sie würde es nicht gehen. Um es etwas griffiger zu machen, ein Beispiel: Die
barometrische Höhenformel, welche den Zusammenhang zwischen Luftdruck und Höhe in der Atmosphäre beschreibt:
Erläuterungen:
P(h): Druck in der Höhe h
P_0: Druck auf Meereshöhe
L: Temperaturgradient (Standardwert: 0,0065 K/m)
h: Höhe über dem Meeresspiegel
T_0: Temperatur auf Meereshöhe
g: Erdbeschleunigung (9,80665 m/s²)
M: Molare Masse der Luft (0,0289644 kg/mol)
R: Universelle Gaskonstante (8,3144598 J/(mol·K))
Zusammenhang zwischen Luftdruck und Höhe (Quelle: eigene Darstellung)
Keine Sorge und bitte nicht erschrecken! Es geht hier nicht darum, diese Formel vollumfänglich zu durchdringen. Nichts ist aber angeblich praktischer als eine gute Theorie. Diese Erkenntnis wird zumindest dem Sozialpsychologen Kurt Lewin zugeschrieben. Zum praktischen Teil: Die barometrische Höhenformel beschreibt, so wie nunmal alle Formeln, Zusammenhänge. In diesem Fall, wie hoch bzw. niedrig in unserer Erdatmosphäre der Luftdruck in einer bestimmten Höhe ist. Siehe Grafik oben. Und das in Abhängigkeit von der Temperatur. Mit einer Portion fortgeschrittener Algebra ließe sich diese Formel umstellen, um beispielsweise herauszufinden, wie warm bzw. kalt es ist, wenn bestimmte Druckverhältnisse und die jeweilige Höhe bekannt sind. Wer sich also schon gewundert hat, warum es in den Bergen immer spürbar frischer ist, diese Formel liefert die Erklärung.
Das ist das Schöne an Formeln und an der Mathematik. Man kann Zusammenhänge verdichten, Beziehungen durch Messung und Beobachtung verifizieren und damit valide Aussagen treffen. In der Meteorologie gibt es ein paar weitere “Klassikerformeln” wie beispielsweise das Ideale Gasgesetz, Temperaturgradienten oder die Clausius-Clapeyron-Gleichung, welche die mit dem Klimawandel verbundene Zunahme von Extremwetterereignissen erklärt. All diese Formeln fließen in Modelle zur numerischen Wetterberechnung ein und sorgen dafür, dass zum Beispiel Pilot:innen wissen, welche Gebiete sie meiden sollten, die Landwirtschaft den besten Zeitpunkt für die Saat definieren kann, die Schifffahrt weiß, mit wie viel Kraftstoffverbrauch man für die 1.000 Container von China nach Europa zu rechnen hat, oder die Behörden in Rheinland-Pfalz lieber doch eine Flutwarnung für bestimmte Gebiete herausgeben sollten. Alles sehr schön erklärt hier unter dem Stichwort Modellierung beim Deutschen Wetterdienst DWD.
Formeln sind großartig, weil sie uns helfen, die Welt zu verstehen. Deshalb wollen so viele Disziplinen welche haben. Auch in den Wirtschafts- und Organisationswissenschaften sowie in der Psychologie werden Zusammenhänge mithilfe mathematischer Formeln ausgedrückt. Bekannt sind zum Beispiel die Break-Even-Analyse (BWL) oder auch Vrooms Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungs-Theorie (Psychologie). Man kann, sofern durch entsprechende Quellen fundiert, noch viele weitere Formeln ableiten und Zusammenhänge aufzeigen. Das gilt ganz besonders für die Organisationsmeteorologie, welche das Beste gleich mehreren Welten sinnvoll verknüpft. Meteorologie, Systemwissenschaften, BWL, Psychologie. Ein Beispiel dafür ist die Konfliktauswirkungsformel*** als eine Synthese aus bestehenden Theorien und Praktiken im Bereich des Managements und der Organisationspsychologie:
Erläuterungen:
NCI (Negative Conflict Impact): Negativer Einfluss des Konflikts.
ICS (Initial Conflict Severity): Anfangliche Schwere des Konflikts.
RE (Resolution Effectiveness): Effektivität der Konfliktlösung. Wert zwischen 0 (keine Lösung) und 1 (vollständige Lösung).
TI (Timeliness of Intervention): Rechtzeitigkeit der Intervention. Wert zwischen 0 (sehr verspätet) und 1 (sofort).
TR (Team Resilience): Teamresilienz. Höherer Wert deutet auf höhere Resilienz hin.
LS (Leadership Support): Führungsunterstützung. Höherer Wert bedeutet mehr Unterstützung.
Diese Formel verdeutlicht, dass sich ein Konflikt umso negativer auswirkt, je schwerwiegender er anfänglich ist, je ineffektiver und langsamer die Konfliktlösung erfolgt und je geringer die Teamresilienz und die Führungsunterstützung sind. Stellen Sie sich vor, in einem Team kommt es zu "Turbulenzen", also zu einem Konflikt: Wenn dieser nicht schnell und effektiv gelöst wird und das Team wenig Resilienz besitzt, kann der negative Einfluss - die Konfliktauswirkung - ganz erheblich sein. Manchmal sogar über das eigentliche Team hinaus. Immer systemisch denken, welcome to Organizational Meteorology! Die Atmosphäre hört schließlich auch nicht an einer festen Grenze auf. Durch gezielte Maßnahmen, eine schnelle Intervention und starke Führung können jedoch der negative Effekt minimiert und weitere Auswirkungen begrenzt werden. So weit, so gut. Aber was hat man nun davon, wenn man nach viel Datenerhebung und -analyse herausfindet, dass der NCI in einem konkreten Fall einen Wert von 0,0254 annimmt?
Zunächst einmal wenig bis gar nichts, denn was soll die 0,0254 denn bedeuten? Es ist zunächst nur eine ziemlich kleine Zahl. Viel spannender ist die Diskussion der in dieser Formel steckenden Zusammenhänge. Diese besagen bekanntlich, dass es im Falle eines Konfliktes darauf ankommt, diesen möglichst zügig und effektiv zu lösen. Denn mit dem Blick auf die entscheidenden Faktoren ("Faktor" hier sogar im mathematischen Sinne) lässt sich die ansonsten unübersichtliche Quellenlage mit unzähligen Hinweisen und Tipps zur Handhabung des Konfliktes so weit reduzieren, dass man damit auch arbeiten kann. Eine gute Formel vereinfacht die Dinge, auch wenn sie zunächst vielleicht relativ kompliziert aussieht. Im konkreten Beispiel kann das bedeuten, dass sehr zeitnah (Faktor TI) die Unterstützung durch externe Mediation (Faktor RE) gesucht wird und mittelfristig in Teambuilding-Aktivitäten (Faktor TR) sowie Führungskräfteentwicklung (Faktor LS) investiert wird.
Organisationsmeteorologische Formeln unterscheiden sich von mathematisch-physikalischen Formeln dadurch, dass letztere tatsächlich sinnvoll mit konkreten Werten anwendbar sind und man den berechneten Ergebnissen sehr wohl trauen darf. Bei den organisationsmeteorologischen Formeln geht es primär um die Darstellung von Zusammenhängen und nicht um die konkreten, numerischen Ergebnisse. Ein solches sollte man immer kritisch hinterfragen. Menschen und die Rahmenbedingungen im System Unternehmen sind viel zu komplex, als dass eine konkrete Berechnung von Verhalten darin möglich wäre, ethische Aspekte der Zulässigkeit einer solchen Modellierung noch nicht einmal berücksichtigt.
Es gibt viele Abhandlungen, die sich aus guten Gründen kritisch mit der Anwendung sowie den Grenzen und Herausforderungen beim Einsatz quantitativer Methoden in Entscheidungsprozessen im Management auseinandersetzen. Siehe hierzu beispielsweise den Artikel "The Benefits - and Limits - of Decision Models" der Beratungsfirma McKinsey. Dennoch bieten Formeln und Gleichungen auch in der Organisationsmeteorologie einen großen Mehrwert, weil sie komplexe Zusammenhänge gut erklären. Mal sehen, wohin die Reise geht. Ich bin sehr gespannt, was die KI in Bezug auf die Modellierung menschlichen Verhaltens in Zukunft noch zu bieten haben wird, und bleibe persönlich wohlwollend kritisch, was das Thema angeht.
Die Anwendung numerischer Modelle zur Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens bringt nämlich nicht nur methodische, sondern auch ethische Herausforderungen mit sich. Anders als in der Meteorologie, wo physikalische Gesetze relativ konstante Vorhersagen erlauben, sind menschliche Systeme beeinflusst von subjektiven, kulturellen und emotionalen Faktoren. Menschliche Verhaltensweisen sind schwer zu quantifizieren, da sie von zahlreichen, sich ständig ändernden Faktoren beeinflusst werden. Psychologische, soziale und kulturelle Aspekte spielen eine bedeutende Rolle, die in mathematischen Modellen nur schwer zu erfassen sind.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Ihre Berechnungen immer stimmen mögen!
Mit heiteren Grüßen,
Michael Wohlstein
Organisationsmeteorologe
*Eine großartige Zusammenfassung der Meteorologie-Historie liefert diese Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung: "Eine Geschichte des Wetterwissens"
**Also eine Disziplin, die man komplett berechnen könnte, wüsste man nur alle Parameter zu einem bestimmten Zeitpunkt. Doch das ist beim Wetter in der Praxis unmöglich.
***Entsprechenden Quellen zur Konfliktauswirkungsformel siehe hier:
1. Konfliktmanagement und Organisationsverhalten: Rahim, M. A. (2011). Managing Conflict in Organizations. Transaction Publishers. Diese Quelle bietet umfassende Einblicke in verschiedene Konfliktmanagement-strategien und deren Auswirkungen auf Organisationen.
2. Anfängliche Konfliktschwere (ICS): Wall, J. A., & Callister, R. R. (1995). “Conflict and its management”. Journal of Management, 21(3), 515-558. Diese Studie untersucht die Schwere von Konflikten und deren initiale Auswirkungen auf Teams und Organisationen.
3. Lösungseffektivität (RE): De Dreu, C. K. W., & Van Vianen, A. E. M. (2001). “Managing relationship conflict and the effectiveness of organizational teams”. Journal of Organizational Behavior, 22(3), 309-328. Diese Quelle beschreibt, wie effektive Konfliktlösungen die Teamleistung und das Arbeitsklima positiv beeinflussen.
4. Rechtzeitigkeit der Intervention (TI): Pelled, L. H., & Adler, P. S. (1994). “Antecedents of intergroup conflict in multifunctional product development teams: A conceptual model”. IEEE Transactions on Engineering Management, 41(1), 21-28. Diese Studie beleuchtet die Bedeutung der rechtzeitigen Intervention in Konfliktsituationen zur Minimierung negativer Auswirkungen.
5. Teamresilienz (TR): Britt, T. W., Shen, W., Sinclair, R. R., Grossman, M. R., & Klieger, D. M. (2016). “How much do we really know about employee resilience?”. Industrial and Organizational Psychology, 9(2), 378-404. Diese Quelle untersucht die Faktoren, die zur Resilienz von Teams beitragen und wie diese die Auswirkungen von Konflikten abmildern können.
6. Führungsunterstützung (LS): Yukl, G. A. (2013). Leadership in Organizations. Pearson. Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über die Rolle der Führung in der Unterstützung von Mitarbeitenden und der Lösung von Konflikten.
7. Allgemeine Konfliktbewältigungsstrategien:
Thomas, K. W. (1992). “Conflict and negotiation processes in organizations”. In M. D. Dunnette & L. M. Hough (Eds.), Handbook of Industrial and Organizational Psychology (2nd ed., Vol. 3, pp. 651-717). Consulting Psychologists Press. Diese Quelle bietet eine umfassende Übersicht über Konfliktbewältigungsstrategien in Organisationen.
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