Bild oben: Höhe der Wolkenuntergrenze in Metern über dem Meeresspiegel (02. Mai 2024, 16.00 Uhr CEST)
Ich weiß nicht genau, wie viele Situationen ich schon erlebt habe, in denen jemand über “zu wenig Handlungsspielraum” geklagt hat. Es waren jedenfalls viele. Und damit meine ich sowohl Situationen im Arbeitsleben als auch in der Fliegerei. In beiden Bereichen spielt es also offensichtlich eine große Rolle, welche Freiheitsgrade man genießt bzw. welche Freiheitsgrade einem von außen zugestanden werden.
In der Fliegerei sind die den Handlungsspielraum begrenzenden Faktoren das Wetter, auf das ich in diesem Beitrag näher eingehen werde, sowie luftrechtliche Regelungen. Nicht jedes Flugzeug darf nämlich zu jeder Zeit in jeden Luftraum und nicht mit jedem Flugzeug darf man alles machen. Das würde an dieser Stelle allerdings zu weit führen, sodass ich mich auf die meteorologischen Aspekte konzentrieren werde. Im Arbeitsleben kommen Restriktionen hauptsächlich aus der jeweiligen Organisationsstruktur, durch Entscheidungen von Vorgesetzten und durch festgelegte Prozesse. Sehen wir uns also einmal an, wie das reale Wetter den Entscheidungsspielraum im Cockpit begrenzt und übertragen wir diese Erkenntnisse dann in die Organisation, in das Unternehmen.
Die Hauptwolkenuntergrenze ist ein in der Luftfahrt sehr beachtetes Konstrukt. In den Produkten zur Flugwetterberatung spielt die Untergrenze derjenigen Wolkenschicht, die mindestens die Hälfte des Himmels bedeckt, eine ganz entscheidende Rolle. Warum? Genau! Weil diese den Handlungsspielraum von Pilot:innen ganz wesentlich bestimmt. Ein kleines Beispiel mag dies verdeutlichen. Bei einem Flug von Stuttgart nach Freiburg macht es einen großen Unterschied, ob man über dem Schwarzwald noch 2.000 Fuß (also gut 600 Meter) bis zum Beginn der Hauptwolkenuntergrenze hat oder vielleicht nur noch 500 Fuß (ca. 150 Meter). Von “Berge in Wolken” will ich an dieser Stelle noch überhaupt nicht reden, bzw. schreiben. Ein “Durchbasteln” durch die Täler sollte immer wohlüberlegt sein, das leuchtet glaube ich jeder und jedem ein.
Man kann daher sicherlich gut nachvollziehen, dass das Stresslevel im Cockpit negativ mit dem Abstand zwischen Boden und Wolken korreliert. Je kleiner der Abstand, desto größer die Anspannung. Der Grund liegt einfach erklärt darin, dass sich die Handlungsoptionen mit abnehmendem Freiraum zunehmend einschränken. Hindernisse kommen einem zwangsläufig näher, die Ausweichrouten werden weniger (da stehen jetzt “plötzlich” “überall” Berge), der Verkehr verdichtet sich im frei verbleibenden Luftraum. Die Belastung steigt. Ein sehr anschauliches Beispiel zum vorbildlichen Umgang mit einer solchen Situation kann man sich in diesem Video von "Pilot Alex" auf YouTube ansehen. Sein Handlungsspielraum beim Heimflug von Friedrichshafen war wetterbedingt durch tiefe Wolken ziemlich eingeschränkt. Er ist aber sehr souverän mit dieser Situation umgegangen, wenngleich man sein erhöhtes “Erregungslevel” (dazu gleich mehr) schon deutlich erkennt.
In Unternehmen kann im Gegensatz zum Cockpit die Belastung interessanterweise durch eingeschränkte Handlungsspielräume bis zu einem bestimmten Punkt sogar gesenkt werden. Interessant, oder?! Je weniger ich selbst entscheiden darf, desto weniger eigene Gedanken muss ich mir machen, desto unkomplexer und leichter ist es letztendlich. Die negativen Auswirkungen auf Motivation und Selbstwirksamkeit kann ich mir an dieser Stelle schenken, denn bekanntlich ist ein vernünftiges Maß an “Erregung” sehr förderlich für Leistung und Ergebnis. Das ist also alles andere als ein Plädoyer für begrenzten Entscheidungs- und Handlungsspielraum im Arbeitsleben. Ganz im Gegenteil!
Um sicherzustellen, dass man im möglichst optimalen “Erregungslevel” bleibt und nicht zu gestresst falsche Entscheidungen trifft, ist eines ganz wichtig: die richtige Vorbereitung. Es spricht nämlich überhaupt nichts dagegen, auch bei relativ tiefen Wolken seine Reise anzutreten. Siehe das Video von “Pilot Alex”. Es sollte nur gewiss sein, dass die Wolkenuntergrenze nicht auf ein gefährliches Niveau absinkt und dass für diesen Fall, der ja prinzipiell immer eintreten kann, die Pläne B und C gezogen werden können.
Dem Wetterbriefing kommt also wieder einmal eine enorme Bedeutung zu. "No Surprises" muss nicht nur im Umgang mit Mitarbeitenden ein Leitmotiv sein, sondern auch das Motto für den jeweiligen Flug. Während ich als Pilot:in die einschlägigen Briefingquellen der Wetterdienste nutzen kann, ist ein solches “Briefing” im Unternehmen nicht so einfach möglich. Dort wird einen niemand warnen, dass der Handlungsspielraum in dieser Abteilung, bei diesem oder jener Vorgesetzten, wohl eher gering ist; möglicherweise zu gering. Das findet man immer erst dann heraus, wenn man sich schon auf den Weg gemacht, also die Tätigkeit angetreten hat. Wäre es nicht großartig, wenn es für Unternehmen auch eine Wetterkarte gäbe, auf denen der aktuelle Abstand zwischen Boden und Wolken – der konkrete Handlungsspielraum – verzeichnet ist, nicht wahr?*
Welcher Handlungsspielraum notwendig ist, ist eine sehr schwierige Frage, weil eine jeweils höchst individuelle Betrachtung. Sowohl in der Fliegerei als auch im Unternehmen. Der Führungstheorie-Klassiker der "situativen Führung" geht ja beispielsweise davon aus, dass der Reifegrad der zu führenden Person bestimmt, wieviel Freiraum ihr optimalerweise zugestanden werden sollte. Und doch hängt immer sehr viel vom Einzelfall ab. In der Fliegerei entwickelt man sich mit zunehmender Erfahrung weiter und kann dann auch mit geringeren Handlungsspielräumen gut umgehen. Als Führungskraft oder Mitarbeiter:in wird man sich hingegen meiner Erfahrung nach mit zunehmender Erfahrung und Reife ein Mehr an Handlungsspielraum wünschen und sich nur äußerst ungern in seinem Handeln einengen lassen.
Welche Konsequenzen sich aus einem zu wenig an Freiraum ergeben, ist in der Luftfahrt deutlich klarer zu beschreiben als im Arbeitsleben. Im Cockpit gilt immer “Safety first!” und damit zum Beispiel kein Einflug in kritische Bedingungen. Notfalls umdrehen und ggf. auf dem zuvor definierten Alternate landen. Im Unternehmen ist das natürlich nicht so klar, schließlich sind die meisten Menschen in einem Unternehmen "abhängig beschäftigt" und das macht einen Kurswechsel nicht wirklich einfacher. Gerade deshalb ist es für Führungskräfte entscheidend, ihren Mitarbeitenden die notwendigen Freiheitsgrade zu gewähren.
In der Luft und am Boden gilt: Nur mit einem Genug an Entscheidungsspielraum ist es möglich, das gewünschte Ziel zu erreichen. Für die Arbeitswelt bedeutet dies, nur wenn jede:r Einzelne sich innerhalb der durchaus auch notwendigen Grenzen möglichst frei und selbstbestimmt bewegen kann, wird die Motivation hoch, die Kreativität reichlich und die Leistung nachhaltig sein. Zum Glück lässt sich das sprichwörtliche Wetter im Unternehmen im Gegensatz zum realen Wetter draußen ganz maßgeblich beeinflussen. Man muss nur wissen, wie.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und mir immer genug Handlungsspielraum. In der Luft und am Boden.
Mit heiteren Grüßen,
Michael Wohlstein
Organisationsmeteorologe
*Anm. d. Verf.: Eine solche Karte kann man bereits mit relativ wenig Aufwand erstellen, man muss nur den richtigen Personen die entscheidenden Fragen stellen
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