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„It's not the economy, stupid“ - Warum nicht die Lage der Wirtschaft, sondern latente Energie Kamala Harris zur Präsidentin machen wird

1. August 2024

Eine kurze, vereinfachende und stark subjektiv geprägte Betrachtung des US-Wahlkampfs aus organisationsmeteorologischer Perspektive

„Riesige US-Flagge auf dem Weißen Haus vor dynamischer Wetterlage“ (Quelle: Mit KI generiert in Canva)

Jim Carville, der 1992 als Chefstratege im Wahlkampfteam von Bill Clinton tätig war, gilt als Begründer des berühmten Satzes „It’s the economy, stupid.“ Diese Aussage war eine der drei Kernbotschaften, auf die sich Clintons erfolgreicher Wahlkampf gegen George H. W. Bush fokussierte. Seitdem wird die wirtschaftliche Entwicklung in Amerika immer wieder als zentrales Kriterium für einen erfolgreichen (Wieder-)Einzug ins Weiße Haus genannt.


In diesem kurzen, vereinfachenden und - zugegebenermaßen - stark subjektiv gefärbten Beitrag möchte ich darlegen, dass meiner Überzeugung nach die Wirtschaft diesmal nicht die entscheidende Rolle für den Ausgang der US-Präsidentenwahl spielen wird. Es werden auch nicht andere Themen die entscheidende Rolle spielen. Nicht die Grenze, nicht die Gefährdung der Demokratie, nicht Abtreibung, nicht verstörende Äußerungen über Kinderlosigkeit, nicht ein Zuviel an Lachen. Es werden sich selbst verstärkende Dynamiken an der Basis sein, die diese Wahl entscheiden. Dynamiken, wie sie sich sehr vergleichbar auch beim Wettergeschehen finden und deren meteorologische Besonderheiten es sich daher zu betrachten lohnen. Anders formuliert: It’s not the economy, it’s the dynamics, stupid.


Latente Energie und ihre große Bedeutung für dynamische Entwicklungen


Wenn flüssiges Wasser in der Atmosphäre verdampft, so wie es bei der Auflösung von Wolken der Fall ist, oder wenn es andersherum kondensiert, also von gasförmig zu flüssig wird, sorgt das nicht nur für ein anderes Aussehen des Himmels, sondern auch für Temperaturveränderungen in den jeweiligen Luftschichten. Wer eine Herdplatte zu Hause hat, weiß, dass man flüssigem Wasser schon ordentlich Energie zuführen muss, um es zum Verdampfen zu bringen. Dabei kühlt sich jedoch auch die Umgebung ab – dieses Phänomen erklärt auch das Schwitzen. Energie, in diesem Fall Temperatur, wird der Umgebung entzogen, weil sie für etwas anderes gebraucht wird, in diesem Fall für das Verdampfen. Es leuchtet mit etwas physikalischem Rest-Wissen aus der Schule und einer dunklen Erinnerung an den Energieerhaltungssatz (Erster Hauptsatz der Thermodynamik) ein, dass beim umgekehrten Weg die zuvor zugeführte und damit „latent“ vorhandene Energie wieder freigesetzt wird. Energie verschwindet ja bekanntlich nicht. So ist es auch in der Atmosphäre. Wenn Wasserdampf kondensiert oder, noch eine Stufe weiter, flüssiges Wasser gefriert, wird zuvor investierte Energie in Form von Wärme wieder freigesetzt. Mit unter Umständen weitreichenden Folgen.


Latente Energie hat eine enorme Bedeutung in der Meteorologie. Sie sorgt dafür, dass durch die nun größere Wärme und die höhere Temperatur die Luftmassen auch ohne weitere Energiezufuhr von außen (also ohne Sonneneinstrahlung) weiter aufsteigen und das Wettergeschehen in Form von Wolkenbildung, Niederschlägen und Stürmen massiv beeinflussen können. Es bedarf aufgrund der latenten Energie daher manchmal nur eines entscheidenden Auslösers, um ein System sehr ordentlich in Schwung zu versetzen. Das System verstärkt sich unter den passenden Rahmenbedingungen dann ganz von selbst. Allerdings muss dafür das System, die Umgebung, labil genug sein, um solche Dynamiken auch zu erlauben. Die physikalischen Details würden an dieser Stelle leider etwas zu weit führen, also mache ich es kurz: Es kommt im Kern auf die Freisetzung latent vorhandener Energie und das richtige Umfeld an, um Dynamiken zu verstärken und somit signifikante Ergebnisse zu erhalten. Und diese meteorologische Erkenntnis lässt sich wieder einmal ganz wunderbar in soziale Systeme und in deren Management übertragen.


Ein Attentat und ein Rücktritt – zwei Auslöser, aber nur ein labiles System


Nahezu alle Beobachter:innen (mich selbst eingeschlossen) waren nach dem Attentat auf Donald Trump am 13. Juli auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Nähe von Butler im US-Bundesstaat Pennsylvania der Meinung, dass das Rennen um das Weiße Haus nun gelaufen sei. Das ikonische Foto der Stärke, das „Fight, Fight!“, die darauf folgende, wahrhaftig messianische Verehrung auf dem republikanischen Nominierungsparteitag. Das alles waren klare Anzeichen dafür, dass das Momentum nun auf der Seite Donald Trumps liegt. Und so war es zunächst ja auch. Das Momentum war allerdings nicht nachhaltig. Wichtiger Grund dafür: Das Umfeld, das umgebende System, war vollkommen stabil. Die republikanische Partei und ihre Anhänger:innen wurden zwar kurzfristig durch das Attentat erschüttert, allerdings ohne große oder gar sich selbst verstärkende Auswirkungen. Die MAGA-Bewegung (Make America Great Again) hatte die republikanische Partei ohnehin schon auf Linie gebracht. Keine Diskussionen mehr, keine Spannungen, keinerlei Unsicherheiten. Welche Energien sollten hier noch frei werden, welche weiteren Dynamiken noch entstehen, die sich im weiteren Verlauf auf unentschlossene Wechselwähler in den „Swing States“ auswirken? Meiner Überzeugung nach keine.


Ein deutlich labileres Umfeld herrschte im Gegensatz dazu bei den Demokraten. Spätestens seit der katastrophalen Debatten-Performance von Joe Biden am 27. Juni beim Sender CNN „brodelte“ (wieder ein toller Wetterbegriff) es nicht nur im direkten Umfeld des US-Präsidenten, sondern bei eigentlich allen, die auch nur ansatzweise auf Seiten der Demokraten stehen. Es herrschte viel im Verborgenen gefangene Energie – latente Energie. Diskussionen, Spannungen, Unsicherheiten. Man konnte ja dem De-Facto-Kandidaten Joe Biden nicht in den Rücken fallen. Aber es war förmlich zu spüren, dass da etwas im Gange war. Wie eine drückende Schwüle beim Wetter, bevor es dann so richtig losgeht.


Das Ganze staute sich über ein paar Wochen auf, dann kam die Erlösung. Oder im organisationsmeteorologischen Sinne besser gesagt, der Auslöser: der Rücktritt Joe Bidens als Präsidentschaftskandidat am 21. Juli. Ein richtiger Knall. Seitdem gibt es im demokratischen System kein Halten mehr. Wie ein sich vom Boden lösendes Warmluftpaket, das die ebenfalls warme Umgebungsluft förmlich mit sich reißt und sich dann als Aufwind auf den rasanten Weg nach oben macht. In Windeseile (auch eine schöne Analogie) kristallisierte sich Kamala Harris als die wahrscheinliche Präsidentschaftskandidatin heraus, es folgten Rekordspenden in dreistelliger Millionenhöhe und an die zweihunderttausend (oder mittlerweile noch mehr?) Freiwillige, die sich für die gute Sache engagieren wollen. Und genau diese Freiwilligen sind die entscheidende Parallele zum Wettergeschehen. Plötzlich „kondensiert es an der Basis“ und Energie wird frei. Allerdings nicht wie in der Atmosphäre an der Wolkenbasis, sondern an der Parteibasis, bei den Mitgliedern. Die einzelnen Elemente schließen sich vor allem emotional zusammen und setzen dadurch neue Energie frei. Der Aufstieg (in den Umfragen) setzt sich fort, noch mehr Zusammenschluss, noch mehr „Kondensation“, noch mehr Energie. Das System kommt so richtig in Bewegung, die Massen sind nicht mehr aufzuhalten. Das ist soziale Dynamik in reinster Form.


Nichts überzeugt mehr als persönliche Empfehlungen


Genau dieser Fakt, diese enorme soziale Dynamik auf Seiten der Demokraten, ist es, was den Ausgang der US-Präsidentenwahl meiner Meinung nach entscheiden wird. Die vielen Helfer, die sich engagieren, telefonieren, an Türen klopfen und in Gesprächen mit ihren Nachbarn Überzeugungsarbeit leisten. Social Media-Kampagnen sind wichtig, TV-Spots nicht wegzudenken, aber „verkauft“ wird im persönlichen Gespräch. Das gilt sowohl für Produkte als auch für Argumente. Aufgrund der geschilderten Dynamiken wird die demokratische Partei ihre diversen und hochmotivierten „Verkäufer:innen“ sehr viel zahlreicher und effektiver aktivieren können, als es die republikanische MAGA-Einheitsbrei-Partei vermag. Die sich selbst verstärkende Begeisterung und der nachhaltig freigelassene Enthusiasmus, den die demokratische Basis in den nächsten Wochen und Monaten auf die Straße bringen wird, sind der entscheidende Unterschied in diesem „tight race“.


Wohlwissend, dass soziale Systeme eine ganz andere Komplexität aufweisen als das Wetter, und selbstkritisch anerkennend, dass an dieser Stelle natürlich auch der Wunsch der Vater des Gedankens ist, sage ich daher mit meiner organisationsmeteorologischen Brille auf den US-Wahlkampf als Ergebnis voraus: Nicht Donald Trump wird der 47. US-Präsident, sondern Kamala Harris wird die 1. Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Die latente Energie wird den Unterschied machen.


Mit optimistischen Grüßen,


Michael Wohlstein

Organisationsmeteorologe

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